Eines Tages im September 1926 fuhren Elsa und ich mit der Berliner Untergrundbahn, und zwar in einem Abteil zweiter Klasse. Uns gegenüber saß ein gutgekleideter Mann – offenbar ein wohlhabender Geschäftsmann – mit einer schönen Aktenmappe auf dem Schoß und einem Brillantring am Finger. Es ging mir durch den Sinn, wie sehr die behäbige Erscheinung dieses Mannes in das Bild der wirtschaftlichen Blüte hineinpaßte, das einem in jenen Tagen überall in Europa begegnete: eine Blüte, die um so auffallender war, als sie unmittelbar auf die Jahre der Inflation folgte, da das Wirtschaftsleben auf dem Kopf gestanden hatte und man fast nur schäbig gekleideten Menschen begegnet war. Nunmehr waren die meisten Menschen gut angezogen und wohlgenährt, und so stellte der Mann mir gegenüber keine Ausnahme dar. Als ich jedoch auf sein Gesicht blickte, da kam es mir vor, als sei dieser Mensch nicht glücklich. Er schien irgendwie bedrückt zu sein – und nicht nur bedrückt, sondern ausgesprochen unglücklich: seine Augen starrten leer vor sich hin und die Mundwinkel waren scharf eingezogen, wie im Schmerz – aber nicht in körperlichem Schmerz. Da ich nicht aufdringlich sein wollte, wandte ich meine Augen ab und sah mir die elegante Dame neben ihm an. Auch sie trug einen sonderbar unglücklichen Ausdruck im Gesicht, als dächte sie an irgend etwas, das ihr Pein bereitete; um ihre Lippen lag ein gefrorenes, zweifellos gewohnheitsmäßiges Lächeln, das einen wie verhaltenes Weinen anmutete. Und dann schaute ich mir die anderen Gesichter im Abteil an – Gesichter, die ausnahmslos gut angezogenen, gut genährten Menschen gehörten: und fast in jedem von ihnen lag ein Ausdruck verborgenen Leidens, so verborgen, daß der Besitzer oder die Besitzerin des Gesichts davon keine Ahnung zu haben schien.
Das war aber merkwürdig. Ich hatte noch nie soviel leidende Gesichter beisammen gesehen – oder kam es vielleicht nur davon, daß ich noch nie danach gesucht hatte? Der Eindruck war so stark, daß ich zu Elsa davon sprach; und nun begann auch sie sich umzusehen und die Gesichter ringsherum mit dem sorgsamen Blick der Malerin zu prüfen, der die Beobachtung menschlicher Gesichtszüge schon zur Gewohnheit geworden war. Danach wandte sie sich erstaunt zu mir und sagte: „Du hast recht. Wieso ist mir das nicht schon früher aufgefallen? Sie sehen alle aus, als ob sie Höllenqualen litten – und dabei lachen sie und reden und sind auf ihre Hüte und Handschuhe bedacht… Ob sie wohl selber wissen, was in ihnen vorgeht?“
Ich war sicher, daß sie es nicht wußten – denn wie wäre es ihnen sonst möglich gewesen, ihr Leben weiterhin zu vergeuden und nur dem Verlangen nachzujagen, ihre äußere Lebenshaltung zu verbessern, ohne auch nur im geringsten an irgendwelche bindenden Wahrheiten zu glauben, ohne einen anderen Wunsch zu haben, als mehr Bequemlichkeiten zu erlangen, mehr Zerstreuungen und vielleicht auch mehr Macht …?
Als wir nach Hause zurückkamen, fiel mein Blick auf ein offenes Buch auf dem Schreibtisch: den Koran, in welchem ich am Morgen gelesen hatte. Mechanisch griff ich das Buch auf, um es fortzulegen; aber da ich gerade dabei war, es zuzuklappen, wurde ich der Zeilen gewahr:
Besessen seid ihr von der Gier nach Mehr und Mehr,
Immerfort, bis ihr in eure Gräber hinabsteigt.
O, einmal werdet ihr es schon wissen!
O, einmal werdet ihr es schon wissen!
O, wenn ihr es doch mit dem Wissen der Gewißheit wüßtet,
Würdet ihr der Hölle um euch gewahr.
Über eine Weile jedoch werdet ihr sie mit dem Auge der Gewißheit gewahren:
Und an jenem Tag wird man euch befragen, Was ihr mit dem Gnadengeschenk des Lebens getan habt.
Quran 102: 1-8
Einen Augenblick lang war ich sprachlos. Meine Hände, die das Buch hielten, zitterten. Dann reichte ich es Elsa: „Lies das. Ist es nicht eine Antwort auf das , was wir in der Untergrundbahn sahen?“
Es war in der Tat eine Antwort: eine Antwort so entscheidend, daß es nunmehr keinen Zweifel mehr für mich gab. Ich wußte mit vollkommener Gewißheit, daß ich ein von Gott eingegebenes Buch in meiner Hand hielt: denn obwohl es den Menschen vor dreizehn Jahrhunderten offenbart worden war, nahm es deutlich etwas vorweg, das erst jetzt, in diesem komplizierten, mechanisierten, von Phantomen besessenem Zeitalter in Erscheinung zu treten vermochte.
Zu allen Zeiten waren Menschen gierig gewesen: aber erst in dieser Zeit war ihre Gier über das bloße Verlangen nach Besitz hinausgewachsen und zu einer Besessenheit geworden, die jede andere Wahrnehmung ausschloß: eine unersättliche Begierde, mehr und mehr zu erlangen, zu tun, zu erreichen – heute mehr als gestern, und morgen mehr als heute -: ein Dämon, der auf den Nacken der Menschen reitet und ihre Herzen vorwärtspeitscht, Zielen entgegen, die immer lockend aus der Ferne glitzern, sich aber in verächtliches Nichts auflösen, sobald man sie erreicht, und immer weitere Ziele in noch größeren Fernen zu versprechen scheinen: Ziele, die um so heller erstrahlen und um so lockender sind, je weiter sie liegen, und dennoch immer wieder in ein Nichts verwelken, wenn man ihrer habhaft wird: und jener Hunger, jener unstillbare Hunger nach Mehr und Mehr, der an des Menschen Eingeweiden zehrt: O, wenn ihr es doch wüßtet, würdet ihr der Hölle um euch gewahr …
Dies war nicht die Weisheit eines Menschen. Wie weise er auch gewesen sein mochte: jener Mann der fernen Vergangenheit im fernen Arabien konnte unmöglich aus sich selbst heraus die Qual vorausgesehen haben, die dem zwanzigsten Jahrhundert ihren Stempel aufdrückte. Aus dem Koran sprach eine Stimme, größer als die Stimme Muhammads …
„Der Weg nach Mekka“ Seite 359 – 361